Der Moment, in dem die Zeit verschwindet
Du beginnst zu trainieren. Ein Blick auf die Uhr: 19 Uhr. Du wirfst, wirfst, wirfst. Vollkommen versunken. Triple 20, Double, Checkout. Wieder von vorne. Der nächste Blick auf die Uhr: 21.30 Uhr. Zweieinhalb Stunden? Unmöglich. Es fühlt sich an wie dreißig Minuten.
Was ist passiert? Wo ist die Zeit hin? Die Antwort liegt in einem der faszinierendsten Phänomene der menschlichen Psyche: dem Flow Zustand. Und Darts ist einer der perfektesten Auslöser dafür.
Die Passung von Anforderung, Fähigkeit und Zielklarheit kann zu einem Aufgehen in der Tätigkeit beziehungsweise zu einer Veränderung der Zeitwahrnehmung oder dem Verschwinden von Sorgen führen. Die Tätigkeit, die man gerade ausführt, geht wie von selbst.
Lass uns eintauchen in die Wissenschaft der Zeitwahrnehmung, die Neurologie des Flow und verstehen, warum Minuten am Oche kürzer wirken als überall sonst.
Die Flow Theorie: Das Fundament verstehen
Wir haben in einigen Artikeln bereits über den Flow (englisch für „fließen, rinnen, strömen") geschrieben. Er bezeichnet das als beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung (Konzentration) und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit (Absorption), die wie von selbst vor sich geht, auf Deutsch in etwa Schaffens beziehungsweise Tätigkeitsrausch oder auch Funktionslust.
Der Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi (1934 bis 2021) gilt als Schöpfer der Flow Theorie, die er aus der Beobachtung verschiedener Lebensbereiche, unter anderem von Chirurgen und Extremsportlern, entwickelte und in zahlreichen Beiträgen veröffentlichte.
Die Bedingungen für Flow
Flow kann bei der Steuerung eines komplexen, schnell ablaufenden Geschehens im Bereich zwischen Überforderung (Angst) und Unterforderung (Langeweile) entstehen. Der Flow Zugang und das Flow Erleben sind individuell unterschiedlich.
Im Darts bedeutet das: Wenn die Anforderung (Triple 20 treffen) zu deinen Fähigkeiten (du triffst sie manchmal, aber nicht immer) passt, entsteht der ideale Nährboden für Flow. Zu leicht (immer treffen) wäre Langeweile. Zu schwer (nie treffen) wäre Frustration.
Die acht Komponenten des Flow nach Csíkszentmihályi
Die ersten drei sind notwendige Voraussetzungen, die weiteren fünf beziehen sich auf das subjektive Erleben:
- Klare Ziele: Du weißt immer, was als Nächstes zu tun ist (Triple 20, dann Double)
- Unmittelbares Feedback: Der Dart landet, du siehst sofort das Ergebnis
- Gleichgewicht zwischen Herausforderung und Fähigkeit: Die Aufgabe ist schwierig genug, um interessant zu sein, aber nicht überfordernd
- Tiefe Konzentration: Deine gesamte Aufmerksamkeit ist auf die Aufgabe gerichtet
- Leichtigkeit des Handlungsablaufs: Alles läuft mühelos, auch wenn es von außen anstrengend aussieht
- Verlust des Zeiterlebens: Charakteristisch für Flow ist die veränderte Zeitwahrnehmung
- Verschmelzen von Handlung und Bewusstsein: Du bist nicht jemand, der Darts wirft, du BIST der Wurf
- Gefühl der Kontrolle: Ein Zustand der Gelöstheit und Angstfreiheit
Beim Darts sind alle diese Bedingungen nahezu perfekt erfüllt. Das macht den Sport zu einer idealen Flow Aktivität.
Die Neurologie der Zeitverzerrung
Das primäre Zeitwahrnehmungszentrum: Die Inselrinde
Das primäre Hirnareal für die Interozeption, also die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Vorgänge, ist die Inselrinde, wobei dieses Areal auch für die Zeitwahrnehmung wesentlich ist.
Da Prozesse in der Inselrinde nicht nur an der Interozeption beteiligt sind, sondern auch die Grundlage für die unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gefühle bilden, führt im Flow Erleben die stark fordernde Tätigkeit, die sich mit den eigenen Ressourcen bewältigen lässt, zu einem beschleunigtem Zeitempfinden.
Was das bedeutet: Dein Gehirn ist so sehr damit beschäftigt, die Dartswürfe zu koordinieren und zu verarbeiten, dass die normale Zeiterfassung in den Hintergrund tritt. Die Inselrinde arbeitet anders.
Transiente Hypofrontalität: Wenn der Präfrontale Cortex Pause macht
Neurowissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass Flow eine vorübergehende Herunterregulierung des präfrontalen Kortex beinhaltet, des Bereichs, der mit Selbstüberwachung und Zeitwahrnehmung assoziiert wird. Dieses Phänomen, genannt transiente Hypofrontalität, soll dazu beitragen, mentales Geplapper zu reduzieren und den Aufgabenfokus zu erhöhen.
Der präfrontale Cortex ist normalerweise zuständig für:
- Selbstreflexion ("Wie mache ich das?")
- Zeitwahrnehmung ("Wie lange mache ich das schon?")
- Innerer Kritiker ("Das war nicht gut genug")
- Zukunfts und Vergangenheitsdenken
Im Flow wird er ruhiger. Die Folgen:
- Du hörst auf, über dich selbst nachzudenken
- Du verlierst das Zeitgefühl
- Der innere Kritiker verstummt
- Du bist vollkommen im Hier und Jetzt
Für den Sport ist das schwierig umzusetzen, aber mit Computerspielen konnte man hirnphysiologisch zeigen, dass im Flow Zustand der frontale Kortex weniger arbeitet, dafür spielt sich mehr Aktivität im motorischen und sensorischen Kortex ab.
Die Absorption: Wenn Aufmerksamkeit sich verengt
Die Absorption in der Beschäftigung reduziert die Ich Wahrnehmung stark, und neben ihr verliert sich auch das Zeitgefühl. Während man im Flow oft beeindruckende Resultate hervorbringt, erfasst das Gehirn die Dauer des kreativen Schaffens nur unzureichend.
Im Darts: Deine gesamte Aufmerksamkeit ist auf die Scheibe, den Wurf, den nächsten Dart gerichtet. Es gibt keinen mentalen Raum mehr für "Wie spät ist es?". Das Gehirn hat schlichtweg keine Ressourcen übrig, um Zeit zu tracken.
Die zwei Arten der Zeitverzerrung im Flow
Im tiefen Flow ist das normale Zeitgefühl aufgehoben. Oft hat dann auch die Zeitwahrnehmung eine ganz eigene Qualität: Ein Moment kann in Zeitlupe, andererseits aber auch eine Stunde wie ein einzelner Moment vergehen.
Zeitraffung: Wenn Stunden zu Minuten werden
Das ist die häufigere Erfahrung. Nach dem Ende einer Tätigkeit sind viele erstaunt darüber, wie spät es ist. Du wirfst zwei Stunden, es fühlt sich an wie zwanzig Minuten.
Warum? Dein Gehirn speichert im Flow weniger zeitliche Marker. Normalerweise merkst du dir unbewusst Ereignisse ("Jetzt habe ich auf die 19 gewechselt", "Jetzt ist jemand reingekommen"). Diese Marker ermöglichen später die Zeitrekonstruktion. Im Flow fehlen sie, weil deine Aufmerksamkeit so fokussiert ist.
Zeitdehnung: Wenn Sekunden zu Minuten werden
Das ist seltener, aber ebenso real. Während der Handlung selbst hat man hingegen oft das Gefühl, schon lange dabei zu sein. Ein einzelner Wurf kann sich unendlich ausdehnen.
Warum? In Momenten höchster Konzentration verarbeitet dein Gehirn mehr Informationen pro Zeiteinheit. Der Flug des Darts wird in ultra hoher Auflösung wahrgenommen. Das führt subjektiv zu einem Gefühl der Zeitdehnung.
Im Erleben kommt es zu Zeitdehnungen und Zeitraffungen: Stunden vergehen wie im Flug, eine Minute fühlt sich an wie eine Stunde.
Das Gedächtnismodell: Warum wir Zeit im Flow vergessen
Weshalb vergessen Menschen im Flow die Zeit? Weshalb denken wir nicht an unsere Sorgen? Eine mögliche Erklärung kommt aus der Gedächtnispsychologie. Das Mehrspeichermodell unterteilt das Gedächtnis in ein Ultrakurzzeit (sensorischer Speicher), ein Kurzzeit und ein Langzeitgedächtnis.
Die drei Speicher im Flow
Sensorischer Speicher: Alles, was du wahrnimmst (der Dart in der Hand, die Scheibe, dein Arm) wird hier für Millisekunden gespeichert. Im Flow ist dieser Speicher hochaktiv, weil du extrem präsent bist.
Kurzzeitgedächtnis: Hier werden Informationen für Sekunden bis Minuten gehalten. Im Flow ist es voll mit aufgabenrelevanten Infos (Punktestand, nächstes Ziel), aber nicht mit zeitlichen Markern oder Sorgen.
Langzeitgedächtnis: Im Flow werden weniger episodische Erinnerungen gebildet. Deshalb kannst du dich später oft nicht genau erinnern, WIE lange du gespielt hast. Die Zeit ist weg.
Der biochemische Cocktail: Hormone des Flows
Wer in den Flow Zustand gerät, erlebt diesen nicht selten als Rausch oder gar Trance. Das ist kein Zufall: Tatsächlich schüttet unser Körper in dieser Fluss Phase verstärkt Glückshormone (Endorphine) aus.
Die Neurotransmitter des Glücks
Flow korreliert auch mit erhöhter Aktivität im dopaminergen Belohnungssystem, was erklärt, warum der Zustand sowohl als energetisierend als auch als intrinsisch befriedigend erlebt wird.
Was passiert chemisch:
- Dopamin steigt (Motivation, Fokus, Belohnung)
- Endorphine werden ausgeschüttet (Euphorie, Schmerzlinderung)
- Noradrenalin steigt (Wachheit, Energie)
- Serotonin steigt (nach dem Flow, Zufriedenheit)
- Anandamid wird freigesetzt (Glücksgefühl, reduzierte Angst)
Der Zustand kann Leben retten, da besonders viel Adrenalin und Serotonin freigesetzt wird. Dadurch werden Informationen über Umwelt und Geschehen schneller verarbeitet und schneller ausgeführt. Außerdem bleibt ein Flow Erlebnis immer positiv in Erinnerung.
Die körperlichen Marker
Die Herzfrequenz wird rhythmischer, die Hautleitfähigkeit steigt, wir können uns voll konzentrieren und die Zeitwahrnehmung schwindet. All das lässt sich körperlich messen und im Gehirn nachweisen.
Der Zustand, der beim Flow erreicht wird, entspricht der kardialen Kohärenz, einer optimalen Synchronisation von Herzschlag, Atmung und Blutdruck. In diesem Zustand besteht völlige Harmonie zwischen dem limbischen System, das die Emotionen steuert, und dem kortikalen System/Neocortex, dem der Sitz für Bewusstsein und Verstand zugeordnet wird.
Darts als Flow Maschine: Warum gerade dieser Sport?
Da viele Sportarten und eine Vielzahl künstlerischer Betätigungen diese Voraussetzungen bieten, werden sie häufig als klassische Flow Aktivitäten bezeichnet.
Die perfekten Bedingungen
- Klare Ziele: Jeder Wurf hat ein eindeutiges Ziel
- Unmittelbares Feedback: Du siehst sofort, wo der Dart landet
- Herausforderung Fähigkeits Balance: Individuell anpassbar durch Zielvorgaben
- Konzentration auf begrenztes Feld: Die Scheibe ist klein, fokussiert
- Kontrollgefühl: Du hast das Gefühl, das Ergebnis beeinflussen zu können
Das Urbild des Menschen im Flow ist das spielende Kind, das sich im glückseligen Zustand des Bei sich Seins befindet. Das in seinem Spiel voll aufgehende Kind spielt nicht nur Robinson, sondern es IST Robinson.
Beim Darts bist du nicht jemand, der Darts wirft. Im Flow bist du der Wurf, die Bewegung, das Ziel.
Praktische Implikationen: Flow bewusst kultivieren
Flow kann nicht erzwungen werden, aber er kann gefördert werden.
Strategie 1: Die richtige Challenge wählen
Zu leicht: Langeweile. Zu schwer: Angst. Genau richtig: Flow.
Praktisch: Wenn du jede Triple 20 triffst, erhöhe die Challenge (180er Serie). Wenn du kaum triffst, reduziere (erst Single 20, dann Triple).
Strategie 2: Ablenkungen eliminieren
Flow braucht Fokus. Fokus braucht Ruhe.
Praktisch:
- Handy weg
- Ruhige Umgebung
- Keine Gespräche während des Trainings
- Feste Trainingszeiten (dein Gehirn gewöhnt sich daran)
Strategie 3: Klare Ziele setzen
Flow entsteht, wenn du weißt, was du erreichen willst.
Praktisch: Nicht "Ich werfe mal ein bisschen", sondern "Ich will 20 Triple 20 in einer Session treffen."
Strategie 4: Rituale etablieren
Rituale signalisieren deinem Gehirn: Jetzt kommt Flow.
Praktisch:
- Immer die gleiche Aufwärm Routine
- Immer die gleiche Musik (oder keine)
- Immer der gleiche Ablauf vor jedem Wurf
Fazit: Die Zeit am Oche ist keine verschwendete Zeit
Zwei Stunden Training, gefühlt zehn Minuten. Das ist kein Bug, das ist ein Feature. Es ist dein Gehirn im optimalen Zustand. Es ist Flow.
Die veränderte Zeitwahrnehmung ist nicht nur ein interessantes Phänomen. Sie ist ein Marker dafür, dass du in einem mentalen Zustand bist, der dich besser macht. Glücklicher macht. Erfüllter macht.
Wissenschaftler gehen davon aus, dass regelmäßige Flow Erlebnisse langfristig die Gesundheit verbessern und uns seelisch stabilieren. Derart intrinsisch Motivierte sind nicht nur emotional ausgeglichener und zufriedener, sondern oft auch mental stärker.
Die Ergebnisse bestätigten, dass Menschen Flow am häufigsten nicht während der Freizeit erlebten, sondern während strukturierter, zielgerichteter Aktivitäten, wie beim Lernen, Sport oder bei der Arbeit.
Wenn die Zeit am Oche verschwindet, hast du nicht die Zeit verloren. Du hast sie optimal genutzt. Du warst im Flow. Und das ist das Wertvollste, was du mit deiner Zeit anfangen kannst.